Ludwig Anton Estl

09.04.1880 – 30.01.1941
verstorben im Konzentrationslager Dachau an Herz- und Kreislaufversagen


Er nimmt das Bild herunter.
Sie hängt es wieder auf.
Er nimmt das Bild herunter.
Sie hängt es wieder auf.
Er nimmt das Bild herunter.
Sie hängt es wieder auf.

Irgendwann passiert es. Als er es wieder herunternimmt, fällt das Bild zu Boden und zerbricht. Das hat dramatische Folgen. Was ist geschehen? Gehen wir der Sache einmal genauer nach.

Familie und Werdegang

Ludwig Anton Estl wird am 8. Mai 1880 in Engelhartszell als Sohn des Anton Estl und seiner Frau Marie, geb. Margelik geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist uns praktisch nichts bekannt. Nur das Datum der Eheschließung mit seiner Ehefrau Julie, geb. Doppelmeyer am 5. Oktober 1909 in Freistadt ist belegt.

Als Finanzwach-Oberkommissär bzw. später Steueraufsichts-Oberkommissär in Österreich hat er eine gute Stellung und ist finanziell abgesichert. Die Estls haben zwei Kinder, Herbert und Hildegard.

 

Kontakt mit Jehovas Zeugen

Im Jahr 1926 lernt Ludwig in Freistadt durch den Schneider Johann Wanka die Lehren von Jehovas Zeugen – damals noch Internationale Bibelforscher-Vereinigung (IBV) genannt – anhand der Zeitschrift „Das Goldene Zeitalter“ kennen.

Er erkennt die Wahrheit darin und tritt noch im gleichen Jahr aus der römisch-katholischen Kirche aus. Im Juli 1927 wird er in der Aist von einem Zeugen Jehovas aus dem Deutschen Reich getauft. Auch Johann Wanka lässt sich am gleichen Tag taufen.

 

Während der NS-Zeit

Aufgrund des Verbots von Jehovas Zeugen in Österreich (1934/35) ist es nicht mehr möglich, sich öffentlich zu dem neu gefundenen Glauben zu bekennen oder sich zu versammeln.

Die Zeugen Jehovas lesen und erörtern die Bibel und die religiösen Schriften, die sie bis 1936 aus Wien und aus der Schweiz zugesandt bekommen, daher in privatem Rahmen. Doch noch bis zum Jahr 1937 beteiligt sich Ludwig Estl daran, die Schriften in Freistadt und Umgebung zu verbreiten.

 

Übersiedlung nach Wels

Im Februar 1938 – er ist zu diesem Zeitpunkt verwitwet und schon im Ruhestand – übersiedelt Ludwig Estl nach Wels, wo er bald in Kontakt mit Anna Zötl kommt, die ebenfalls eine Zeugin Jehovas ist.

Sie betreibt eine Wäscherei in der Grieskirchner Straße 32 und ist ihm von Freistadt her schon bekannt, da sie dort mit ihrem Mann ein Gasthaus hatte.

In der Folge fährt er bis Anfang November 1939 für sie die Wäsche zu den Kunden aus – eine Tätigkeit, die er trotz seiner zunehmenden Schwerhörigkeit noch gut durchführen kann.

In der Wäscherei lernt er auch ihre Tochter Anna und ihren Schwiegersohn Egmund Stadtegger kennen, die wie er von den Lehren der Zeugen Jehovas begeistert sind und sich im Geheimen für deren Verbreitung engagieren.

 

Durch den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich am 11. März 1938 wird die Lage von Jehovas Zeugen zunehmend schwieriger.

Alle Gesetze, die in Deutschland nur schrittweise in Kraft getreten sind, werden ab sofort auch in Österreich umgesetzt. Als Folge davon können politische Gegner und Jehovas Zeugen in „Schutzhaft“ genommen und auch ohne gerichtliche Verurteilung in Konzentrationslager eingeliefert werden.

Jehovas Zeugen fallen den Behörden generell auch deshalb auf, weil sie sich nicht an der Volksabstimmung beteiligen, die die Nationalsozialisten am 10. April 1938 im gesamten Deutschen Reich zur nachträglichen Legitimierung des Anschlusses abhalten.

 

Im Juli 1938 trifft sich Ludwig Estl in Linz mit seinem Glaubensbruder Josef Pirchenfellner aus Freistadt/Böhmer Vorstadt.

Die beiden vereinbaren, zusammen eine Radtour zu unternehmen und fahren im August 1938 mit dem Fahrrad über Schwanenstadt nach Ottnang, weiter über Ried nach Antiesenhofen, Salzburg, Ramsau und durch das Salzkammergut.

In all den besuchten Orten wohnen Glaubensbrüder, bei denen sie jeweils übernachten (beispielsweise Ottnang: Familie Mattischek, Ried: Hingsamer Katharina, Antiesenhofen bzw. Reichersberg: Stockmaier Juliane).

Es ist anzunehmen, dass die Besuche bei ihnen vor allem dazu dienen, sich gegenseitig im Glauben zu stärken und ihnen Schriften von Jehovas Zeugen zukommen zu lassen. Der Besitz und die Verbreitung solcher Schriften ist schon seit längerem verboten – die Tour ist also keineswegs ungefährlich.

 

Denunziation und Schutzhaft

Am 11. Juli 1938 wird Egmund Stadtegger verhaftet, von der Gestapo verhört und in Schutzhaft genommen. Ludwig Estl ist deshalb sehr vorsichtig, um nicht auch in den Fokus der Gestapo zu geraten.

Eine Unachtsamkeit wird ihm schließlich zum Verhängnis:

Sein Sohn Herbert ist zu dieser Zeit an der Front, dessen Braut Theresia P. lebt vorläufig im selben Haushalt wie Ludwig Estl bei dessen Tochter Hildegard, inzwischen verehelichte Stundner, in der Dr.-Groß-Straße 26b.

Auch wenn er sich um ein gutes Auskommen mit ihr bemüht – eines stört ihn ganz gewaltig: dass sie über ihrem Bett ein Bild von Adolf Hitler hängen hat.

Er nimmt es daher wiederholt herunter, bis es schließlich unglücklicherweise zerbricht. Theresia ist außer sich und zeigt Ludwig bei der Gestapo an.

Er wird daraufhin wegen des Vergehens nach dem Heimtückegesetz angeklagt und nach einer Vernehmung durch das Sondergericht Linz am 6. November 1939 im Polizeigefängnis Linz in Schutzhaft genommen.

 

Das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ vom 20. Dezember 1934, bekannt unter der Bezeichnung Heimtückegesetz, stellt die missbräuchliche Benutzung von Abzeichen und Parteiuniformen unter Strafe.

Es schränkt darüber hinaus das Recht auf freie Meinungsäußerung ein und kriminalisiert alle kritischen Äußerungen, die angeblich das Wohl des Reiches, das Ansehen der Reichsregierung oder der NSDAP schwer schädigen.

Aufgrund der Zuständigkeit der Sondergerichte werden den Beschuldigten wesentliche Verfahrensrechte verwehrt.

 

Wieder frei nach rund sechs Monaten Schutzhaft unterschreibt Ludwig Estl eine Erklärung, wonach er sich nicht weiterhin für die IBV betätigen wird.

Er verpflichtet sich darüber hinaus, Personen, die werbend für die IBV an ihn herantreten oder IBV-Schriften verbreiten unverzüglich zur Anzeige zu bringen.

Diese Erklärung mag im ersten Augenblick überraschen, er nutzt jedoch damit – wie auch einige andere Glaubensbrüder – ein Schlupfloch in der damaligen Gesetzeslage.

Am 26. Juli 1931 hatten die Internationalen Ernsten Bibelforscher bei einem Kongress in Columbus (Ohio, USA) vor einem Publikum von mehr als 15.000 Menschen den Namen „Jehovas Zeugen“ angenommen.

Diese Namensänderung wurde weltweit publiziert und ist inzwischen mehr als acht Jahre her, muss also auch den zuständigen Behörden im Deutschen Reich bekannt sein. Trotzdem hinkt die Rechtsprechung nach: Jehovas Zeugen sind noch nicht ausdrücklich verboten, die Zugehörigkeit zur Internationalen Bibelforscher-Vereinigung hingegen schon.

In seiner Erklärung distanziert er sich nachdrücklich von der IBV. Einerseits macht er sich damit keiner Lüge schuldig, andererseits besteht dadurch kein Grund mehr, ihn weiter in Schutzhaft zu behalten.

Am 7. Mai 1940 wird er aus der Schutzhaft entlassen. Das Verfahren gegen ihn nach dem Heimtückegesetz wird schlussendlich eingestellt.

 

Am 12. Juni 1940 setzt eine reichsweite Verhaftungswelle gegen Jehovas Zeugen ein. Allein in Oberösterreich werden 27 Zeugen Jehovas festgenommen, die dürftigen Beweise lassen jedoch nur in 17 Fällen eine Anklage zu.

Ludwig Estl wird nicht belästigt oder festgenommen. Er hat ja vor kurzem die Erklärung unterschrieben und gilt nicht mehr als Bibelforscher.

Unter den Angeklagten sind auch Egmund Stadtegger und Anna Zötl, die im Rahmen diverser Verhöre unter anderem zu Ludwig Estl befragt werden. Die beiden geben zu, ihn zu kennen, sagen aber aus, seit seiner Haftentlassung am 7. Mai 1940 nicht mehr mit ihm gesprochen zu haben.

Egmund betont außerdem, Estl auf keinen Fall dahingehend beeinflusst zu haben, die von ihm unterschriebene Erklärung (vom Mai 1940) zu widerrufen.

 

Neuerliche Schutzhaft, KZ Dachau

Die Gründe, warum Ludwig Estl seine Erklärung zurückgenommen hat, sind nicht bekannt. Möglicherweise kann er es mit seinem Gewissen schlussendlich doch nicht vereinbaren, die Lehren der IBV, die ja im Grunde nichts anderes sind als die Lehren von Jehovas Zeugen, zu verleugnen.

Er wird erneut in Schutzhaft genommen und am 24. August 1940 ins Konzentrationslager Dachau überstellt.

Im Laufe des Jahres 1940 werden immer mehr Häftlinge aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern in das KZ Dachau eingeliefert.

Die Zahl der Häftlinge steigt im Sommer 1940 auf etwa 10.000 Gefangene an. Die Lebensumstände der Häftlinge verschlechtern sich ab Kriegsbeginn drastisch. Mörderische Arbeitsbedingungen, die unzureichende Versorgung und die mangelnde Hygiene im Lager führen zu einem sprunghaften Anstieg der Sterberate.

 

Ludwig Estl wird das Lager nicht mehr verlassen.

Er stirbt im Alter von sechzig Jahren am 30. Jänner 1941 an Herz- und Kreislaufversagen.

Durch ein heruntergefallenes Bild – eigentlich eine Lappalie – wurde eine traurige Kette in Gang gesetzt, die ihm schließlich das Leben kostet.

 

Verein zur Rehabilitierung und Unterstützung von Opfern der NS-Zeit - beschäftigt sich seit 1998 mit der Dokumentation und Aufarbeitung des Schicksals unschuldiger Opfer.

ZVR-ZL: 848 301 405

 

Spendenkonto

  • Verein LILA WINKEL
  • IBAN
    AT36 1200 0006 4519 5801
  • BIC
    BKAUATWW
  • Bankinstitut
    BANK AUSTRIA

Kontakt

Michelbachberg 52, 8081 Empersdorf

+43 699 182 365 83