Reiter Ernst

Geboren: 11. April 1915 in Graz, Österreich
Vater: Franz Reiter, Steinmetz
Mutter: Rosina Waldinger
Verheiratet mit Kristina Semlitsch
Kinder: Ernestine und Ingrid, geb. 1949, Judith, geb. 1954
Gestorben: 25. April 2006

Ernst Reiter erzählt:

Kindheit

Ich wurde am 11. April 1915 – mitten im Ersten Weltkrieg – geboren. Mein Vater war Soldat im Krieg. Als er am Ende des Krieges heimkam, war er sehr gezeichnet. Krank und enttäuscht, konnte er nicht mehr an Gott glauben und wurde Freidenker. In der Früh, am 7. April 1926, bevor ich in die Schule ging, fragte mich Vater: „Ernst, willst du leben oder mit in den Tod gehen?“ – Ich wusste gar nicht, was er meinte und sagte „ich will leben“. Als ich von der Schule nach Hause kam, wurden gerade zwei Särge aus der Wohnung getragen. Meine Eltern hatten sich durch Gas selbst getötet. Ich war 11 Jahre alt und Vollwaise.

Erfreulicherweise gab es da noch meine Großmutter, Theresia Reiter, und meine Tante Cäcilia. Die beiden nahmen mich bei sich auf. Sie ermöglichten es mir, trotz ärmlicher Verhältnisse, die Bürgerschule zu besuchen.

Ende der 1920er Jahre kamen die Tante Cäcilia und die Großmutter mit den „Ernsten Bibelforschern“, wie Zeugen Jehovas damals genannt wurden, in Kontakt und so erfuhr auch ich, was es heißt, sein Leben nach der Bibel auszurichten. 1934 trat ich aus der katholischen Kirche aus, was damals nicht so einfach war. Für mich bekamen die Worte der Bibel „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und das Gebot: „Du sollst nicht töten!“ eine viel größere Bedeutung, als ich die Einberufung zum Militär erhielt. 3 x erhielt ich eine Einberufung, doch da ich eine Anstellung als gelernter Verkäufer hatte, was damals nicht selbstverständlich war, wurde ich immer zurückgestellt. Da hatte ich Glück … noch …

Verhaftung

Am 12. März 1938 marschierte Hitler in Österreich ein. Am 6. Sept. 1938 kamen dann zwei Polizisten zeitlich in der früh in das Geschäft, wo ich arbeitete und verhafteten mich von der Arbeit weg. Die nächsten Wochen wurde ich immer wieder verhört und schließlich zu 6 Monaten Gefängnis im Straflandesgericht in Graz, verurteilt.

Nachdem ich auch nach dieser Zeit als Wehrdienstverweigerer galt, hat man mich wegen erschwerter Gehorsamsverweigerung noch einmal verurteilt und so kam ich am 6. März 1939 nach Grafenwöhr in Bayern. Ich verweigerte wieder den Wehrdienst und wurde zum Strafvollzug nach Bayreuth überstellt. Dort traf ich auf den Hauptfeldwebel Pongratz. Dieser war so zornig, weil ich den Dienst mit der Waffe ablehnte, dass er schrie: „Lebend werden Sie hier nicht mehr herauskommen!“ Darauf sagte ich: „Das bestimmen nicht Sie, sondern DER, der über uns steht!“

Im Konzentrationslager Flossenbürg

Im November 1940 wurde ich zusammen mit neun Polen ins Konzentrationslager Flossenbürg eingeliefert. Ich erhielt die Häftlingsnummer 1935 und einen lila Winkel, der mich als Bibelforscher kennzeichnete. Ich wurde im Block 3 untergebracht und gleich einmal auf den Bock gebunden und 25 Stockhiebe sausten auf mich nieder. Ich hatte unerträgliche Schmerzen und war geschwollen und dunkelrot angelaufen. Übrigens war das so, dass der Häftling laut mitzählen musste, wie viele Stockhiebe ihn trafen. Hat er sich verzählt, dann wurde mit „eins“ wieder begonnen – unvorstellbar.

Ich lernte bald noch weitere Foltermethoden kennen. z B. Ertränken im Waschtrog. Man wurde so lange mit dem Kopf unter Wasser gedrückt, bis man bewusstlos wurde – dann herausgezogen und wieder untergetaucht. Ja, und die schlimmste Tortur war das Galgenhängen. Es war der größte Schmerz, den ich je in meinem Leben erleiden musste. Dabei werden einem die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und man wird dann hochgezogen. Es scheint, als würden die Arme aus den Schultern gerissen.

Arbeit im Steinbruch

Ohne Sicherheitsvorkehrungen, schlecht bekleidet und bei jedem Wetter – im Sommer bei 30 Grad und im Winter bei Minusgraden – mussten die Häftlinge Erde abtragen, Granitblöcke absprengen, Wagen mit Gestein schieben und Steine schleppen. Nach Arbeitsschluss mussten die Häftlinge sogar die Toten zurück ins Lager tragen um beim Zählappell vollzählig zu sein.

Viele andere aber starben im Lager an Unterernährung, infolge der schweren Arbeit, durch Unfälle oder an den Grausamkeiten der Bewacher. Man konnte diese vielen Menschen nicht begraben und so ließ die SS ein lagereigenes Krematorium zur Leichenbeseitigung bauen. Es heißt, dass von den 84.000 Männern und 16.000 Frauen, die von 1938 bis 1945 inhaftiert waren, rund 30.000 umgekommen sind. Ich überlebte im Konzentrationslager Flossenbürg über 1.600 Tage.

Am 8. April 1945 begann die SS mit der Beseitigung von Spuren ihrer Taten im Konzentrationslager. Am 20. April 1945 mussten sich alle Häftlinge – das waren ca. 40.000 – in Blocks aufstellen, weil das Lager geräumt werden sollte. Ursprünglich war das Lager für 3000 Häftlinge gedacht, jetzt waren wir 40.000 und marschierten los. Das Ziel war, die Häftlinge umzubringen, d. h. sie sollten den sogenannten „Todesmarsch“ antreten, um nicht in die Hände der „Befreier“ zu fallen. Auch die 23 Bibelforscher machten sich auf diesen grausamen Weg. Da auch die Zeugen völlig entkräftet waren, behalfen wir uns mit einer Schiebetruhe, in die wir abwechselnd die Schwächsten gelegt haben und die etwas Kräftigeren schoben sie. Schließlich erlösten die Amerikaner uns Häftlinge vom Todesmarsch.

Endlich waren wir frei

Geld zum nach Hause zu fahren hatten wir keines. Es gab auch keinen öffentlichen Zug oder Autobus und so bekamen wir, mein Freund Anton Wohlfahrt und ich, von den Amerikanern zwei Fahrräder und damit ging es in Richtung Heimat über Straubing und Nauburg, ca. 800 km nach Hause. Da Anton der Sohn von Kärntner Bauern in Techelsberg war, nahm er mich mit, damit ich wieder zu Kräften komme. Aber ich wollte nach Hause. Am 6. Sept. 1945 kam ich zurück nach Graz – nach 7 langen Jahren.

Als ich zu Hause ankam, war natürlich mein erster Weg zur Großmutter und zu meiner Tante Cäcilia. Meine Großmutter sah ich leider nicht wieder – sie war inzwischen verstorben.
Auch Tante Cäcilia war nicht da, sie war im Konzentrationslager Auschwitz ums Leben gekommen.

Nach dem Krieg

1947 heiratete ich Kristina Semlitsch und wir gründeten eine Familie. 1949 kamen unsere Zwillinge Ingrid und Ernestine zur Welt und fünf Jahre später Judith.
1958 kauften wir uns ein kleines Auto. Der erste „Urlaub“, also die erste große Reise, ging nach Deutschland an die tschechische Grenze in das Konzentrationslager Flossenbürg. Ich musste diesen Ort nochmals sehen, konnte aber meiner Familie von den Grausamkeiten nichts erzählen, zu tief waren die Wunden.

Aber ich wollte noch unbedingt diesen Hauptfeldwebel Pongratz treffen – ich war ihm noch eine Antwort schuldig. Ich erfuhr tatsächlich, dass dieser nach dem Krieg Bürgermeister im Ort Landshut in Bayern war.

Wir fuhren dorthin. Meine Frau und die Kinder blieben im Auto sitzen. Ich kam in die Amtsstube. Da saß im Vorzimmer der Sekretär – und welch eine Überraschung, es war ein Feldwebel, den ich kannte. Dieser lief rot an – er hatte mich auch erkannt. Er war damals bei der Drohung, die der Hauptfeldwebel Pongratz ausgesprochen hatte, dabei gewesen.
„Der Bürgermeister ist derzeit nicht hier“, sagte er, „leider … und schade!“

Ob es nun wahr war oder nicht, ich musste mich mit diesen Worten zufrieden geben. Ob er etwas ausrichten könne fragte der Sekretär. Ich sagte: „Ja, Grüße von Ernst Reiter. Häftling Nummer 1935, „Ich lebe noch!“

 

Weitere Details aus dem Leben von Ernst Reiter erzählen dessen Töchter

- Ingrid Portenschlager und

- Judith Ribic

als “Zeitzeuginnen der 2. Generation”.

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Gedenkstätte Flossenbürg http://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/

 

Stolperstein

Am 27. Juli 2013 wurde im Gedenken an die mutige Weigerung von Ernst Reiter, den Wehrdienst in Hitlers Armee abzulehnen, ein STOLPERSTEIN verlegt.  Möge dieser Gedenkstein für die Zukunft mahnen und erinnern, dass göttliche Werte über menschlichen Befehlen stehen müssen.

Stolperstein für Ernst Reiter: 8052 Graz, Einödstraße 1

Verein zur Rehabilitierung und Unterstützung von Opfern der NS-Zeit - beschäftigt sich seit 1998 mit der Dokumentation und Aufarbeitung des Schicksals unschuldiger Opfer.

ZVR-ZL: 848 301 405

 

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